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missmesmerized's reviews
1556 reviews
Den Wölfen zum Fraß by Patrick McGuinness
challenging
medium-paced
5.0
Als man eine Frauenleiche findet, scheint der Täter offenkundig: der etwas exzentrische Einzelgänger Michael Wolphram, der das Opfer auch kannte und gar nicht verhehlt, gelegentlich mit der attraktiven jungen Frau gesprochen zu haben. Vor seiner Pensionierung war er Lehrer am Chapleton College, das auch Alexander, einer der beiden Polizisten, die den Fall untersuchen, besuchte. Er hat gänzlich andere Erinnerungen an den Mann als das Bild, das die Presse schnell von ihm zeichnet. Sein Kollege Gary will eigentlich nur noch die notwendigen Beweise sichern und den Fall abschließen. Was zunächst offenkundig scheint, wirft jedoch schnell einige Fragen auf.
Patrick McGuiness erzählt zwar oberflächlich in "Den Wölfen zum Fraß" einen klassischen Krimi, darunter liegt jedoch eine scharfsinnige Analyse der Gesellschaft, die auf unterschiedenen Ebenen von Vorurteilen und klaren Grenzen zwischen den Schichten und Bevölkerungsgruppen geprägt ist. Die Frage nach dem Mörder rückt immer wieder hinter diese zurück und eröffnet so Raum für weitaus größere und interessante Aspekte.
Die beiden Polizisten sind perfekt austarierte Partner, die trotz ihrer Verschiedenheit, oder vielleicht auch gerade wegen dieser, hervorragend zusammenarbeiten und sich ergänzen. Alexander der gebildete, studierte, der mit klarem Kopf sachorientiert vorgeht; Gary repräsentiert mit seinem Dialekt eher die Arbeiterklasse, zu der er naturgemäß bei Befragungen auch besser einen Draht aufbauen kann.
Durch die Rückblicke in eine längst vergangene Schulzeit eröffnet Alexander nicht nur ein differenzierteres Bild des Verdächtigen, sondern zeigt auch wie eng die realen und geistigen Mauern des britischen Internatslebens sein können und wie schwierig es für Außenseiter ist, dort Fuß zu fassen. Mehr noch allerdings exponiert er die Presse, die blutsaugend hinter dem Fall her ist. Die Geschichte basiert auf jener von Christopher Jeffries, der 2010 wegen des vermeintlichen Mordes an Joanna Yeates durch die Boulevardblätter bereits verurteilt wurde, bevor überhaupt die Polizeiarbeit abgeschlossen war.
Kein Roman, der mich von der ersten Seite gepackt hätte, sondern einer, der zunehmend sein Potenzial zeigt, dessen pointierte Sprache ihre Bedeutung erst langsam enthüllt und dann erst erkennen lässt, um was für einen großartigen, bis ins Detail ausgefeilten Roman es sich handelt.
Die Kinder sind Könige by Delphine de Vigan
reflective
medium-paced
4.0
Schon als Jugendliche hat Mélanie die Stars der Reality TV Shows bewundert und wollte sein wie sie. Doch ein kurzer Auftritt hat ihr gezeigt, dass sie dort nicht hingehört. Mit dem aufkommenden Internet und den Social-Media-Kanälen wächst jedoch in der inzwischen zweifachen Mutter ein Plan heran. Bei anderen sieht sie, wie man mit Alltagsvideos Likes generieren und ein bisschen Berühmtheit erlangen kann. Sie ist perfekt darin, sich und die beiden Kinder Sammy und Kimmy zu inszenieren und das kommt an, Millionen Menschen folgen ihren YouTube Videos und Instagram Storys. Doch dann passiert das Schlimmste, was sich Eltern vorstellen können: Kimmy verschwindet beim Spielen. Die Polizistin Clara muss erst lernen, mit wem sie es zu tun hat und der Verdacht liegt schnall nah, dass es sich um einen Neider handeln könnte, denn davon gibt es beinahe genauso viele wie Fans.
„Die Kinder sind Könige“ ist ein Roman, der irgendwie so gar nicht in die Reihe von Delphine de Vigans Veröffentlichungen passt. Für mich liest sich die Geschichte wie eine Anklage der Sogenannten „Mommy-Influencerinnen“ und Familien-Blogger, was sie sicherlich auch ist, wirkt dadurch etwas zu sachlich und wenig fiktiv. Die Figuren treten hinter die Aussage zurück und können bei mir daher nicht die Emotionen wecken, wie es anderen von der Autorin erschaffenen Figuren gelungen ist. Nichtsdestotrotz greift sie ein wichtiges Thema auf und verpackt es geschickt in die Handlung um das Verschwinden des 6-jährigen Mädchens.
Mélanies Enttäuschung von dem ausbleibenden Erfolg im Fernsehen ist der Ausgangspunkt für ihre sagenhafte Karriere, die jedoch nur durch das Instrumentalisieren ihrer beiden Kinder möglich wird. Mehrmals pro Woche müssen sie Filme drehen, strikt nach Drehbuch, was jedoch besonders spontan und authentisch wirken soll. Es ist ein Job, Mélanie ist den ganzen Tag damit beschäftigt, die Fans zu bedienen, neuen Content zu planen und zu generieren. Dass die Kinder ausfallen, ist nicht vorgesehen und wehren können sie sich nicht, dazu sind sie zu klein.
Durch die Augen der Polizisten, denen das Business weitgehend unbekannt ist, nähert man sich auch als Leser und beginnt zu verstehen, welche Maschinerie hinter diesem Phänomen steht, das scheinbar auch sehr erträglich ist. Die Kindheit online dokumentiert zu sehen, scheint zunächst ein lustiger Spaß, ein Einblick hinter sonst verschlossene Türen, der ein wenig den Voyeurismus in uns allen bedient. Der Roman geht jedoch schwerpunktmäßig darauf ein, was dies mit den Kindern macht. Die Geschichten der Kinderstars aus dem Film- und Musikbusiness sind bekannt: der Kindheit beraubt haben nicht viele schon früh zu Drogen und Alkohol gegriffen. Doch im Gegensatz zu den Internetstars hatten sie immer eine öffentliche und eine private Seite des Lebens. Mélanie lässt keine Privatheit bei Sammy und Kimmy zu, alles wird öffentlich und veröffentlicht – unlöschbar für immer und alle verfügbar.
Ein aufschlussreicher Roman, der ein wichtiges Phänomen thematisiert. Erzählerisch wäre sicher noch mehr drin gewesen, man hat den Eindruck, dass der Autorin das Thema so wichtig war, dass dieser Aspekt hinter die Aussage zurücktreten musste.
Zusammenkunft by Natasha Brown
challenging
reflective
medium-paced
3.0
Eine junge Frau aus bescheidenen Verhältnissen. Arbeite hart, mehr als die anderen, pass dich an. Das haben ihr ihre Eltern mitgegeben. Sie hat fleißig gelernt, einen guten Abschluss an einer renommierten Universität gemacht, einen Job im Finanzsektor ergattert und doch besteht ihr Alltag hauptsächlich aus Diskriminierungserfahrungen. Weil sie eine Frau ist. Weil sie die falsche Hautfarbe hat. Weil sie der falschen Klasse entstammt. Im Privaten? Nicht viel besser. Die Familie ihres Freundes toleriert sie, sie ist nur eine Phase, aber ganz sicher keine standesgemäße Partie, die als heiratstauglich angesehen werden könnte. Sie hat alles getan, um dazuzugehören und hat doch keinen Platz erhalten.
Natasha Browns Debütroman „Zusammenkunft“ ist mit begeisterten Stimmen aufgenommen und vom Feuilleton gefeiert worden. Rassismus, Klassismus, Misogynie – sie bringt die großen Themen auf kaum mehr als 100 Seiten zusammen und verdeutlicht damit, dass Großbritannien nichts von all dem überkommen hat, was seit Jahrzehnten beklagt wird. Wichtige Aspekte, Themen, über die gesprochen werden sollte, aber: das hat man schon besser gelesen. Die Protagonistin kann sich kaum entwickeln, da ist der Roman – oder ehe: die Novelle – schon wieder zu Ende. Themen anreißen, ja, aber wichtiger wäre noch eine gewisse Tiefe.
Mir fehlt in der Geschichte ein wenig die Kohärenz, eher episodenhaft werden Szenen präsentiert, in denen die Hauptfigur Diskriminierungserfahrungen macht, sei es aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Klasse oder ihrer Hauptfarbe. Sie versucht sich anzupassen, was nur leidlich gelingen kann und immer wieder wird sie zur Projektionsfläche derer, die gescheitert sind und sie dafür verantwortlich machen – als Frau, als Ausländerin, da werden ihr die Jobs ja geradezu nachgeworfen, nur um Diversität zu fördern.
Sie ergibt sich, schweigt, spielt mit - im Gegensatz zu ihrer Freundin Rach, die lauthals für die Gleichberechtigung einsteht. Die Protagonistin schafft es hingegen nicht einmal vor Schulkindern ehrlich von ihren Erlebnissen zu berichten. Der Kampf wäre auch nicht einfach möglich, zu schwer wirkt die Intersektionalität; es ist eben nicht der eine Grund, der sich zum Opfer von Diffamierung macht und sie daran hindert, sich mit einer bestimmten Gruppe zu identifizieren.
Trotz all dem, was in der kurzen Geschichte steckt, für mich waren hier Bernardine Evaristo mit ihrem Roman „Girl, Woman, Other“ oder auch mit ihrem Sachbuch „Manifesto“ ebenso wie Michaela Coels „Misfits“ viel greifbarer und ausgereifter in der Thematik.
Give Unto Others by Donna Leon
adventurous
medium-paced
5.0
When Commissario Guido Brunetti is contacted by his childhood neighbour, he is a bit perplexed and does not know what to do. Elisabetta Foscarini is worried about her daughter Flora. She does not provide any real details but Flora's husband Enrico Fenzo makes her feel uncomfortable. The accountant has helped her husband Bruno to set up a charity but then suddenly left the project to take care of other clients. Her feeling might stem from Fenzo's business contacts but she cannot really nail it down. Brunetti promises to look into the matter even though he is not convinced of any threat. Since life has become slow in Venice due to the pandemic, he and his team have got the time to investigate the matter. Just when the start digging, Flora's veterinary clinic is vandalised and some animals are seriously harmed. Soon after, clever Signorina Elettra finds some remarkable facts about "Belize nel Cuore", Bruno del Balzo's charity.
Not a classic murder investigation for the Venetian Commissario. However, Donna Leon cleverly integrated the pandemic into the plot which slowed down life in the Italian city due to the lack of tourists. Thus "Give Unto Others" differs quite from the other crime mysteries in the series but in my opinion, it is a lot more complex and interesting since it is not that obvious where the investigation will lead to and the characters, too, have a lot more depth.
What brings Elisabetta to Brunetti is quite vague at the beginning, neither does she really know where her uneasy feeling comes from nor does the detective know where exactly to start and to look. As it turns out, things are not what they seem and people have motives they successfully hide for a long time thus exploiting others reach their questionable aims.
Rapidly, the story develops into a financial crime novel which is complicated on the one hand, and, on the other, tells you a great deal not only about people but also about legislation. At the end, you have learnt a lot of things you actually did not really want to know and again, the thin line between legal and illegal reveals itself to be quite flexible depending on the point of view: what is morally questionable might be perfectly legal.
A thought provoking crime mystery that, again, I thoroughly enjoyed.
Anthem by Noah Hawley
adventurous
challenging
medium-paced
4.0
All over the country, teenagers are committing suicide, leaving a note that says “A11” which does not make sense to the adults. While America sinks into chaos with violence ruling the streets, a group superrich enjoys their peaceful life. Some individuals still believe in the constitution, thinks that with the established structures, they can do something to turn the situation around, to make a change. Among them is Margot Burr-Nadir who is about to be appointed to the Supreme Court. She has strong convictions and is well-meaning but the disappearance of her daughter Story also occupies her mind. While some still hope for a future, it much rather seems as if the last day of mankind has arrived.
I was so looking forward to Noah Hawley’s next novel and “Anthem” sounded like a luring effigy of the world we are heading to. Now, in March 2022, I had to start the novel three times until I could finish it. Neither the author nor the book is to blame, reality which has overtaken Hawley’s imagination at a tearing pace is. This was simply not a good moment for me to read a dystopia in which single persons accept the destruction of countries, of lives, to reach their personal goals.
“Anthem” portrays the USA in a state not much different from reality, just a step further. I liked Hawley’s thoughts and direct addresses to the reader in the story, especially that moment where he ponders about how you can write a satirical text while reality is the best satire (referring to people complaining about how masks limit their personal liberty). Well, that was yesterday, if we thought that after two years of pandemic nothing could shock us anymore – surprise, surprise.
Stories of the deep state, a global conspiracy of the rich and the powerful, people living within and yet outside society captured in their own frame of belief built on bits and pieces gathered here and there – there is nothing unthinkable anymore. We have seen all of that wondering where it might lead ultimately – and how the next generation might react to it. The aspect of collective suicide since there is no hope, no future anymore is persuading: what has this world to offer them? News, fake news, alternating news – what can you believe? Bombings, attacks, wars, violence – when is your turn to be hit? There is a small group of teenagers, courageously following their ideals, showing empathy and thus bringing some hope to the plot. Unfortunately, I cannot imagine this happening right now.
There is so much in the novel to ponder about. Noah Hawley without a doubt greatly developed aspects of the present into his dystopian future, showing how closely he observes the world he lives in and touching sensitive issues which should lead us to react before it is too late. Unfortunately, the novel did not come at the right moment for me to really enjoy it.
Kangal by Anna Yeliz Schentke
reflective
medium-paced
5.0
Kangal - wie der starke bissige Hirtenhund, das ist das Pseudonym, unter dem Dilek online zu finden ist. Unter diesem schreibt sie, was man in der Türkei seit 2016 nicht mehr öffentlich sagen kann, weil sonst Gefängnis oder Schlimmeres droht. Doch nach Befragungen und Verhaftungen in ihrem Bekanntenkreis wird die Luft dünner, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis man sie identifiziert. Dilek beschließt zu fliehen, weiht nicht einmal ihren Freund ein. In Deutschland hofft sie in Sicherheit zu sein, nur zu ihrer Cousine Ayla traut sie sich Kontakt aufzunehmen, denn bevor ihre Mütter sich im Streit entzweiten, waren sie unzertrennbare Verbündete, fast wie Schwestern, obwohl sie in zwei verschiedenen Ländern aufwuchsen.
Anna Yeliz Schentke greift in ihrem Debütroman ein aktuelles Thema auf. Dass sich die Lage nach dem Putschversuch für alle, die nicht auf Linie des Präsidenten sind, dramatisch verschlechtert hat, ist weitgehend bekannt. „Kangal“ schildert eindrücklich die Angst, die vor allem junge, nach Freiheit strebende Menschen begleitet, und die Schwierigkeit, ihren Landsleuten hier in Deutschland die Situation begreiflich zu machen, während diese im zweiwöchigen Sommerurlaub an den Stränden das Dasein genießen und nichts von den alltäglichen Repressalien des Mannes erfahren, dem sie aus der Ferne zujubeln.
Dileks Angst wird in der Geschichte zunehmend greifbarer. Quasi minütlich könnte sie entlarvt und ihr Pass gesperrt werden. Was genau sie online gepostet hat, bleibt dabei im Dunkeln, spielt aber auch keine Rolle in einem Staat, wo es Rechte und Rechtsstaatlichkeit nur noch auf dem Papier zu geben scheint. Auch in der Ferne kann sie sich nicht von der Angst befreien und fürchtet bei jedem Türken, dass dieser zum Verräter werden und sie auffliegen lassen könnte.
Ihre Cousine kennt die Türkei nur als Urlaubsland, hat natürlich die Nachrichten verfolgt, kann sich aber kaum vorstellen, dass Dilek sich ernsthaft in Gefahr befindet. An ihrer Figur wird das zweite große Thema des Romans angerissen: wie konservativ ist die türkische Gemeinschaft hierzulande, können sich gerade junge Frauen überhaupt frei entfalten und wie kommt es, dass viele der sogenannten Gastarbeiter sich trotz anderer Pläne ihr Leben letztlich in Deutschland eingerichtet und die Rückkehrpläne aufgegeben haben. Vor allem für Frauen scheinen sich die großen Versprechungen und Erwartungen nicht erfüllt zu haben – Grund genug, diese auch den Töchtern vorzuenthalten?
Ein kurzer Einblick in das türkische Leben dort wie hier, in dem sich vieles im Schatten oder Verborgenen abspielt, sei es wegen der gesellschaftlichen oder familiären Normen oder wegen staatlicher Drohung, die auch aus der Ferne wirkt. Interessant fand ich dabei, dass Dilek weitaus moderner und aufgeklärter wirkte als Ayla, die sich letztlich doch dem familiären Korsett fügt und nur sehr begrenzt ihre eigenen Vorstellungen von einem Leben verfolgt.
Das Ungesagte, Verschwiegene nimmt einen wichtigen Platz mit ganz unterschiedlichen Funktionen ein. In der Türkei bietet dies Schutz vor der staatlichen Gewalt, in der Familie von Dilek und Ayla steht es zwischen ihnen, die Mädchen wissen nicht, was zwischen den Müttern gesagt und vorgefallen war und trauen sich nach Jahren auch kaum die Frage danach zu stellen, sondern beginnen selbst zu schweigen. So wird das Schweigen von einer auf die nächste Generation übertragen, ohne dass diese wüsste, warum.
Ein interessanter Roman, der viel zu schnell endet, denn die Geschichte der beiden jungen Frauen ist für mich noch nicht zu Ende erzählt, zu viel Potenzial steckt noch in Anna Yeliz Schentkes Figuren.
Die Diplomatin by Lucy Fricke
informative
reflective
medium-paced
5.0
Friederike - Fred - Andermann hat sich im diplomatischen Dienst hochgearbeitet und wird als Konsulin nach Montevideo geschickt. Als sie gerade mit den Vorbereitungen zu den Feierlichkeiten des 3. Oktobers beschäftigt ist, platzt die Meldung über eine verschwundene Bloggerin herein. Seit 24 Stunden kein Post - für die Mutter ist klar, dass dem Kind etwas zugestoßen sein muss. Fred ordnet den Fall nicht ganz so dramatisch ein, kümmert sich dennoch, nicht ahnend, dass dies ihr größtes Scheitern werden wird. Zwei Jahre später findet sie sich in Istanbul wieder, die diplomatische Stimmung ist aufgeheizt und sie selbst gerät durch eine Affäre zwischen die Fronten.
Lucy Fricke konnte mich mit ihrem Roman „Töchter“ bereits vollends begeistern, die Lebendigkeit der Figuren, die ihren Vorgänger ausgezeichnete, findet sich auch in „Die Diplomatin“ wieder. Dem Roman gelingt die Balance zwischen der Schilderung des hochförmlichen diplomatischen Dienstes und der bisweilen fast zynischen Reaktion der Protagonistin auf diesen, was zu einem lockeren Ton mit zahlreichen Seitenhieben verschmilzt.
Auch wenn ich zunächst etwas unglücklich über die relativ kurze vorgeschaltete Episode in Uruguay war, da die Haupthandlung sich in der Türkei abspielt, ist diese doch ganz wesentlich für die Entscheidungen und das Handeln Freds. Folgt sie in Uruguay noch dem Protokoll, versteckt sich hinter dem Amt, das sie bekleidet, und überlässt die wichtigen Entscheidungen der Zentrale, so ist sie in Istanbul an einem ganz anderen Punkt angelangt. Sie hat erlebt, dass auch ihre Vorgesetzten nicht alles verhindern können und falsche Entscheidungen treffen. Das Protokoll mag Sicherheit geben, aber Intuition und Menschenverstand sind womöglich manchmal überlegen.
Die Vorgänge in der türkischen Großstadt greifen das auf, was einem aus Zeitungsmeldungen der vergangenen Jahre nur allzu bekannt ist. Verhaftungen ohne Anklage, fast absurde Anschuldigungen, Menschen, die einfach verschwinden, durchsuchte Wohnungen - die ganze Palette eines Staates im Ausnahmezustand und größter Erregung baut Fricke geschickt ein. Die Opfer der Repressalien - eine Künstlerin, ihr unbescholtener Sohn, ein Journalist - sind alledem machtlos ausgeliefert und auch Fred kann trotz ihrer Position wenig bis gar nichts ausrichten.
Die Grenzen der Diplomatie und was die Erfahrungen mit den oft handlungsunfähigen Menschen machen, fängt der Roman überzeugend ein. Von geradezu banalen repräsentativen Terminen bis zu jenen, die Contenance erfordern, die fast nicht aufbringbar ist und gegen die sich alles sträubt - man fragt sich, wie lange man so etwas aushalten kann. In der Figur Freds wird diese Zerrissenheit sehr deutlich und überzeugend dargestellt.
Ein kurzer und vor allem kurzweiliger Roman, der so gar nichts vom schönen Schein des Diplomatenlebens zeigt, dem Leser aber unterhaltsame bis nachdenkliche Einblicke erlaubt.
Terminus Leipzig: Kriminalroman by Max Annas, Jérôme Leroy
adventurous
challenging
fast-paced
4.0
Nach einem Alleingang mit ihrem Team, bei dem ein Kollege tödlich getroffen wird, wird die DGSE Kommissarin Christine Steiner zunächst beurlaubt. Die Zeit soll sie auch nutzen, um den Selbstmord ihrer Mutter zu verarbeiten. Obwohl privat unterwegs bittet ihr Chef sie, bei einem Einsatz in Lyon zu unterstützen. Dort wurde ein älteres deutsches Ehepaar ermordet, ehemalige Mitglieder einer linksextremen Gruppierung, auf die ein deutsch-französisches rechtes Bündnis offenbar gerade Jagd macht. Als Christine den Tatort inspiziert, findet sie etwas, das sie völlig aus der Bahn wirft: ein Foto, auf dem ihre Mutter und sie als Kleinkind zu sehen sind. Ihre Mutter hatte nie darüber gesprochen, weshalb sie 1971 alle Brücken zu ihrer deutschen Heimat abgebrochen hat. Christine benötigt nicht viele Informationen, um sich schon kurz danach auf den Weg nach Leipzig zu machen und Rache zu nehmen.
Es gibt Autoren, zu deren Büchern man greift, ohne auch nur einen kurzen Blick auf den Klappentext zu werfen. Jérôme Leroy zählt für mich zu diesen, Max Annas konnte mich bislang gleichermaßen begeistern. Eine Kooperation von beiden ist daher etwas, das ich mir kaum entgehen lassen konnte. „Terminus Leipzig“ ist im Rahmen des Krimifestivals „Quais du Polar“ zwischen den beiden Autoren und ihren Verlagen Edition Nautilus aus Deutschland und Le Point aus Frankreich entstanden. Wie auch in ihren anderen Romanen wird die Handlung von gesellschaftspolitischen Ereignissen getragen, hier der gegenwärtige Terrorismus, der mit der linksextremen Gewalt in der Bundesrepublik der 1970er geschickt verbunden wird.
Als Leiterin einer Antiterroreinheit ist Christine unerschrocken und strategisch in ihrem Vorgehen. So akribisch sie sich über ihre Zielpersonen informiert, hat sie die fehlenden Informationen über ihre eigene deutsche Herkunft immer hingenommen und die Mutter nie genötigt, etwas über ihre Zeit vor dem Umzug in die französische Provinz zu berichten. Das Foto vom Tatort lässt jedoch kaum andere Schlüsse zu als dass die unauffällige Krankenschwester offenbar eine extremistische Vergangenheit hat. In Wolfgang Sonne, der ebenfalls zu sehen ist, glaubt Christine ihren Vater zu erkennen, weshalb sie sich auf den Weg zu ihm macht, um Antworten auf die bislang nie gestellten Fragen zu erhalten. Doch dafür bleibt kaum Zeit, denn gerade in Leipzig angekommen, geraten sie in das Feuer der Rächer, die Sonne ebenfalls ausfindig gemacht haben.
Ein rasanter Kurzkrimi, der sich nicht lange mit der Figurenentwicklung aufhält, sondern unmittelbar ins Geschehen einsteigt. Eine vielversprechende Zusammenarbeit der beiden Autoren, die für mein Empfinden noch stärker hätte ausgebaut werden können, denn sie reißen nur an, was sie eigentlich können. Auch die Handlung bietet noch Entwicklungsspielraum, womöglich ist dies ja in dem Cliffhanger am Ende angelegt, wünschen würde ich mir das jedenfalls.
The Golden Couple by Sarah Pekkanen, Greer Hendricks
medium-paced
5.0
When Marissa and Matthew Bishop contact Avery Chambers for counselling, she senses immediately that they are hiding something but believes that the couple is perfect for her ten-step-therapy programme. First, it all goes according to plan. Marissa confesses her affair with somebody from her gym and Matthew reacts as one would suppose. But then, the picture blurs and Marissa’s employee Polly appears on the scene, as well as Matthew’s ex, and the couple is more and more under stress. Avery gets stressed, too, since she has her own battles to fight while caring for her clients. When Avery’s private life suddenly mixes with the Bishop’s, it becomes obvious that there are a lot more secrets than you would ever have expected.
I have already enjoyed “The Wife between Us” and “You Are Not Alone” by the writing duo Greer Hendricks and Sarah Pekkanen and quite naturally was curious to see what their latest mystery “The Golden Couple” would come up with. I was not disappointed, a complex story which only slowly unfolds it whole potential and develops into a web of lies and secrets not easy to untangle.
The protagonist Avery is an interesting character. Admittedly, I’d say her professional approach might be questionable, but she is really concerned about the people she works with and puts a lot of effort in the counselling. Why she herself is always close to freaking out and on high alert only becomes obvious after some time, adding another aspect to her personality.
The couple at first seems to be rather average but then develops into a fascinating pair which oscillates between fighting together and fighting each other. The other characters at some point become highly suspect in the way they act, what they obviously hide and the links they have which are not apparent at first.
I thoroughly enjoyed reading the novel and I am eager to any further read of the duo.
Mouth to Mouth by Antoine Wilson
challenging
reflective
relaxing
medium-paced
5.0
The narrator, an unsuccessful writer, is on his way to Berlin when he coincidentally meets a former fellow student at JFK airport. Jeff, too, remembers him immediately even though they haven’t seen each other for two decades. As their flight is delayed, they decide to spend the waiting time together and update each other about what they have done in the last twenty years. Jeff’s life was marked by an incident on the beach, when he saw a man drowning. He could save him but not forget the occurrence. He starts enquiring about him and soon finds out that Francis Arsenault is a successful art dealer. Jeff becomes more and more fixated on the man, wondering if he remembers that he was his saviour. When he gets to work at Francis’ gallery, this is the beginning of a major change in his life – yet, will he ever get the chance to reveal what brought him there in the first place?
Antoine Wilson has chosen an interesting framework for his story which puts the reader in the same place as the writer who mainly just sits there and listens to Jeff’s account. You know that what he tells is highly subjective, only one side of the story is presented in a way that Jeff wants to put it, but nevertheless, quasi as a former friend, you are willing to believe him not knowing where all this is going to lead to. “Mouth to Mouth” is highly intriguing from the first page, due to a very clever foreshadowing, you are aware that there must be something behind Jeff’s need to tell his life story, but you keep wondering what that could be.
“’Who better than someone who was there at the beginning?’ – ‘You said that before. Only I’m not sure why it matters.’ ‘You knew me then. That I had a good heart.’“
Repeatedly, Jeff stresses that he has a good heart, that he only wanted the best for others, that he did do nothing wrong and just like the narrator, you wonder why he keeps on stressing that point. Saving somebody from downing is surely an admirable act, selfish and courageous. That he started following Francis then and slowing crept into his life is not that honest but he didn’t do no harm. So you keep on reading eager to figure out what will ultimately make Jeff appear in a totally different light.
“Just think, if I had somehow not saved Francis’s life, if instead he’d died on that beach, everything that came after would not have happened like it did.”
The novel raises the big question about what might have happened if just one incident of your life hadn’t happened, or had turned out differently. Many things of our everyday life do not have life changing consequences, but some do. And everybody knows this pondering about the “what if”. Connected to this is inevitably the question of necessary consequences, of a bigger plan behind it all.
In Francis’s case, he was granted more time on earth due to Jeff’s intervention, but did he use that time wisely? He is a reckless art dealer and the closer Jeff gets and the more he learns about him, the more he wonders how that man deals with the big gift he was given. At the same time, he gets insight into the shiny art’s business which is all but shiny behind the facade and which is, well, just a business where money is made.
A brilliantly plotted novel which is thought-provoking and play well with the reader’s expectations and emotions.