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Nach Mitternacht by Irmgard Keun

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reflective

5.0

 
Nachdem sie aus ihren Eifeldorf zur Tante nach Köln gezogen war und von selbiger mehr als schlecht behandelt wurde, lebt Sanna im Winter 1937 schließlich bei ihrem älteren Bruder Algin in Frankfurt. Am Nachmittag hat sie nach Monaten der Stille einen Brief von Franz erhalten, dem Cousin, den sie in Köln zurückließ und heiraten will. Am Abend werde er kommen, er müsse mit ihr reden. Bis dahin durchstreift Sanna mit ihrer Freundin Gerti Kneipen, wohnt dem Besuch des Führers bei und erlebt eine ausufernde Party bei ihrer Schwägerin. Ihre Gedanken springen zwischen Erinnerung und Gegenwart und dokumentieren das Leben in der Großstadt in der dunkelsten Zeit Deutschlands. 
 
Anlässlich des Lesefests „Frankfurt liest ein Buch“ wurde Irmgard Keuns Exilroman „Nach Mitternacht“ neu aufgelegt. Der Erscheinungstermin fiel sicher nicht zufällig mit dem Holocaust-Gedenktag zusammen, gilt der Roman als eines der wichtigsten Dokumente des Alltags in der Naziherrschaft und gibt wie nur wenige andere literarische Werke Einblick in das bürgerliche Leben der Zeit. Keun verfasste weite Teile der Geschichte noch in Deutschland, veröffentlichen musste sie den Roman jedoch zunächst in den Niederlanden und Frankreich. 
 
Die Handlung um Sanna, die auf die Ankunft von Franz wartet, ist dicht und tritt hinter die viel beeindruckenderen dokumentarischen Aspekte des Romans zurück. Getragen werden diese von den Figuren, die die ganze Bandbreite des Lebens repräsentieren. Sannas Freundin Gerti ist naiv und jung und nutzt das Begehren der Männer ohne etwas zu hinterfragen. Ihr loses Mundwerk ist gefährlich, doch immer wieder kommt sie damit durch. Sannas Bruder Algin spürt die Repressalien deutlich, als Autor kann er nicht mehr schreiben, was er möchte, die Zensur ist streng und von dem einst pompösen Leben nach seinen Erfolgen ist wenig geblieben. Tante Adelheid wiederum hat sich bestens mit den neuen Zeiten arrangiert und wacht in ihrem Haus wie eine Bulldogge über die Einhaltung der Nazi Ideologie. 
 
Durch Augen des 18-jährigen Mädchens erlebt man den offenen Judenhass - man mag ja gar nicht glauben, dass die sogar ganz adrett aussehen und nett sein können - SA und SS Männer erscheinen mehr als trinkfreudige Dummköpfe, die man jedoch nicht unterschätzen sollte, wie sich im Laufe des Romans herausstellt. 
 
Absurd geradezu die Inszenierung des Besuchs Hitlers - und dann offenbart sich, dass es eben nicht nur eine Angelegenheit von einigen wenigen Verblendeten war, die aktiv unterstützten, sondern dass sich die Ideologie mit ihrer Doktrin dessen, was gesagt und gedacht werden durfte, bis in die letzte Ecke des Privatlebens hineingeschlichen hatte. In ihren eigenen Wohnungen können sie nicht vor der Politik flüchten und auch wenn sie sich scheinbar teilen in die, die offen unterstützen, und diejenigen, die sich wegducken und wegschauen und nur ihr Leben in Frieden leben wollen, gemeinsam bleibt ihnen jedoch, dass sie sehen und genau wissen, was geschieht. 
 
Ein beeindruckendes Zeitzeugnis, in dem unsagbare Dinge gesagt werden, die man heute plötzlich auch wieder hören kann. Hinter der Aktion „Frankfurt liest ein Buch“ steht die Idee, Literatur zum Gesprächsthema zu machen. Wenn dem Roman dieses Ansinnen auch nur ansatzweise gelingt, ist im Jahr 2022 schon sehr viel erreicht. Dass er zur Pflichtlektüre werden sollte, steht dabei völlig außer Frage. 
Erschütterung by Percival Everett

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reflective medium-paced

5.0

 
Zach Wells arbeitet als Paläontologe an einem kalifornischen College und kann völlig in der Welt der Gesteine versinken. Ähnlich faszinierend ist für ihn nur seine 12-jährige Tochter Sarah, die ihn regelmäßig im Schach spielen schlägt. Als Sarah Sehschwierigkeiten äußert, denken sich die Eltern nicht viel, eine Brille und das Problem ist aus der Welt. Doch dann müssen sie erfahren, dass das Mädchen an einem neurodegenerativen Syndrom leidet. Zach und seine Frau Meg können nicht gut mit der raschen Verschlimmerung umgehen, statt bei seiner Frau zu sein, flüchtet sich Zack nach New Mexico. Wenn er seiner Tochter nicht helfen kann, dann vielleicht wem anders. 
 
Der amerikanische Autor und Professor für Englische Literatur Percival Everett veröffentlicht seit fast 40 Jahren Romane und Kurzgeschichten, für die er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. „Erschütterung“ stand 2021 auf der Finalliste des Pulitzer Prize in der Kategorie Fiction. Bei meiner Recherche zu dem mir bis dato unbekannten Autor bin ich auf ein Kuriosum zu diesem Buch gestoßen: es wurde in den USA mit drei verschiedenen Enden der Geschichte veröffentlicht, auch die drei Cover sind dezent unterschiedlich. Man kann seine Haltung exzentrisch nennen, wenn er sagt, dass er denkt, der Leser solle die Autorität darüber haben, was ein Buch zum ihm sagt, nicht der Autor, denn jeder Leser liest etwas Anderes in einer Geschichte. Warum also nicht gleich drei verschiedene Versionen anbieten? 
 
Im Zentrum der Handlung steht Zach und die Erschütterung, die er und seine Frau durch die Diagnose erhalten. Sie wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen, sind sich nicht einige, ob sie Sarah überhaupt davon berichten sollen, immerhin scheint das Mädchen die Anfälle gar nicht selbst zu bemerken. Dem eigenen Kind beim zunehmenden Verlust von Geist und Körper zuzusehen, geht an ihre Substanz und so entfernen sich Zach und Meg immer weiter voneinander und jeder sucht seinen eigenen Umgang mit etwas, mit dem es keinen guten Umgang geben kann. 
 
Währenddessen geht das Leben außerhalb des Nukleus der Familie jedoch weiter und Zach sieht sich mit unterschiedlichen Herausforderungen der Campus-Politik konfrontiert, mit denen er sich auch sonst schon nicht beschäftigen will. Auch die mysteriöse Nachricht, die er in einer gekauften Jacke findet, beschäftigt ihn, obwohl er den Zettel mit dem vermeintlichen Hilferuf auch einfach hätte entsorgen und vergessen können. 
 
Ein Aspekt des Romans fand ich ungewöhnlich und doch sehr clever integriert. Nebenbei wird an einer Stelle erwähnt, dass Zach Schwarzer sei, was mich zunächst irritierte, da dies für die Handlung zu diesem Zeitpunkt gänzlich irrelevant war und ich daran keinen Gedanken verschwendet hatte. Im weiteren Verlauf zeigt sich, dass diese Information in den Erlebnissen und Erfahrungen Zachs durchaus eine Rolle spielt, der Autor macht es aber nicht zu einem Problem, das gelöst werden muss, oder lässt Zach aufgrund dieser Tatsache in Selbstmitleid versinken oder sich gar radikalisieren. Völlig geräuschlos steht dieses Faktum im Raum, bis sich die Blicke zum ihm hinwenden und dann auch wieder wegrichten. Ein sehr interessanter Umgang mit einem Thema, dass literarisch in den letzten Jahren durchaus relevant und vielfach bespielt wurde, aber nicht auf diese Weise. 
 
Ein vielschichtiger Roman, der in der Tat sehr unterschiedlichen Lesern sehr viel bietet, worauf man fokussieren kann. Sein amerikanischer Verleger sagte in einem Interview über Percival Everett, dass er ein Autor sei, der immer wieder entdeckt und jedes Mal aufs Neue die Frage gestellt werde, weshalb er nicht bekannter sei. Das frage ich mich allerdings auch. 
28 Questions by Indyana Schneider

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reflective medium-paced

5.0

 
Amalia leaves her Australian home to study music in Oxford. She has only just arrived when she meets Alex, another Australia in her third year already. They befriend immediately and spend more and more time together philosophing, questioning life and sharing everything. It is an intense but perfect friendship. Yet, things become complicated when their friendship turns into love. What was easy and carefree suddenly becomes complicated, misunderstanding after misunderstanding, unexpressed and unfulfilled expectations turn the perfect friends into the worst lovers. 
 
“(...) every so often, I come across a new piece of music and getting to know the music kind of feels like falling in love. And the idea of spending my life falling in love over and over again... who wouldn’t want that?” 
 
The title refers to a study by psychologist Arthur Aron which postulates that a certain set of questions can lead to more intimacy and a deeper relationship between people. The protagonist of Indyana Schneider’s novel asks “28 Questions” which actually bring her closer to her first friend, then lover but they cannot help untangle the complications they have to face. It is a kind of college novel about becoming an adult, about love and about identity in an ever more complex world. 
 
“I just don’t get how it’s possible to be such wonderful, compatible friends and so ill suited as lover.” 
 
This is the central question. How can two people being that close, sharing the same ideas and attitudes simply be so incompatible as lovers. They are fond of each other, there are butterflies and they even match physically – but the relationship doesn’t work out. Over years, they have an on/off relationship because they can neither live with nor without each other. 
 
Yet, the novel is not a classic heart-breaking love story. What binds Amalia and Alex is an intellectual love, they get closer over the questions which address core human topics, from social interaction over social categories of identity and the definition of themselves. They grow with each other, reflect upon their convictions and finally enter the real world of adulthood for which they are still not quite prepared. 
 
A wonderfully written, intense novel about love which goes far beyond just being attracted by someone. 
Ende in Sicht by Ronja von Rönne

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emotional reflective medium-paced

5.0

 
Juli steht auf einer Autobahnbrücke, von der sie sich gleich stürzen möchte. Schon seit Jahren ist die 15-Jährige depressiv, doch nun hat sie für sich das Ende beschlossen. Doch statt aufzuknallen und von einem Auto überrollt zu werden, landet sie auf dem Seitenstreifen vor dem Wagen von Hella, einem ehemaligen Schlagersternchen, die in derselben Mission unterwegs ist, das allerdings bei Dignitas in der Schweiz hinter sich bringen möchte. Hella liest das Mädchen auf und hat mit 69 Jahren plötzlich zum ersten Mal im Leben Verantwortung. Es beginnt ein bizarrer Trip durch Deutschland von zwei Frauen, die verschiedener kaum sein könnten und sich doch sehr ähnlich sind. 
 
Es sind die eigenen Erfahrungen der Autorin, die sie veranlasst haben, die psychische Erkrankung zum zentralen Thema in ihrem aktuellen Roman §Ende in Sicht“ zu machen. Ronja von Rönne gelingt es dabei zu zeigen, dass Juli nicht immer traurig ist, dass sie sogar lachen kann und doch kommen immer wieder auch die schwarzen Wolken, die alles verdunkeln. Die beiden Protagonistinnen sind herrliche Sparringspartnerinnen, die den Roman trotz seines belastenden Sujets – immerhin wollen beide ihrem Leben ein Ende setzen – locker wirken lassen und auch ein wenig Mut machen. 
 
„Es war schließlich nicht ihre Schuld, dass Teenager gerade vom Himmel fielen, wenn sie selbst auf dem Weg dorthin war.“ 
 
Die Atmosphäre schwankt zwischen ernsthaft und komisch, was vor allem an der sprachlichen Versiertheit der Autorin liegt. Sie findet die passenden Worte, um die Absurdität, in die die beiden geraten sind, ironisch zu begleiten und dennoch wird der Ernsthaftigkeit des Hintergrunds der Begegnung dadurch keinen Abbruch getan. 
 
Hella wie auch Juli sind liebevoll gezeichnet. Sie sind beide auf ihre Weise Außenseiter, haben ihre Wege gefunden, um mit ihrem Schicksal umzugehen – auf dem Schulklo vor den Kameradinnen verstecken die eine, Sorgen in Alkohol ertränken die andere – und sind keineswegs so egozentrisch, wie es zunächst erscheinen mag. Trotz der großen Altersdifferenz verbindet sie etwas und sie geben auf einander Acht und sorgen sich um die andere. Ihre Einsamkeit führt sie zusammen, dadurch ist nicht plötzlich alles gut, aber gemeinsam ist es doch irgendwie besser. 
 
Ein kurzweiliger Roman, der für mein Empfinden sehr behutsam mit dem Thema Depression umgeht. Weder wird überdramatisiert noch die Tränendrüse bemüht. Lesenswert vor allem durch die pointierten Formulierungen und die beiden zentralen Figuren, die Ronja von Rönne wirklich hervorragend gelungen sind. 
The Girl Who Could Breathe Under Water by Erin Bartels

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challenging reflective

5.0

 
Novelist Kendra Bennan’s first book That Summer, which was based on her childhood experiences at her grandfather’s cabin on Hidden Lake, was a great success. Yet, the writing for the second does not really advance. The reason is an anonymous letter she got accusing her of not having told the truth in her first novel. Yet, she did write what and how she remembered it all. She returns to the cabin in order to find the necessary calm. However, her plan does not really work, her thoughts centre around the anonymous writer and of course around her childhood friend Cami who has been missing for some time. Only Cami’s brother and their parents are there and Andreas, her German translator, who unexpectedly turned up and moves in with her. Weeks full of tension, of things unsaid that now come to the surface and change Kendra’s view on much more than just that summer. 
 
It is the first book that I read by Erin Bartels, an award winning novelist whom, regrettably, I haven’t noticed before. “The Girl Who Could Breathe Under Water” is a kind of coming-of-age story, it is a mystery and it is a reflection on the connection between fact and fiction, on how much of a writer’s experiences can be found in his writing and to what extent they are allowed to exploit their real life for their work – and the people around them who might recognise themselves or be recognised by others. 
 
“I was lying to myself about why I decided to finally return to Hidden Lake. Which makes perfect sense in hindsight. After all, novelists are liars.” 
 
After the disturbing letter which she simply cannot ignore, Kendra returns to the cabin where she spent her summers, the only time she was carefree. Finishing the novel that is due plays a role but much more importantly for her is finding out what happened that summer of which she has disturbing memories she hasn’t ever been able to overcome. By confronting Cami’s brother, she hopes to elucidate the events. Soon, she has to comprehend that reality is a lot more complex and people have much more complicated and contradictory feelings than she had anticipated. That a lot of secrets are also connected to that place does not make it easier to untangle it all. 
 
“ ’Writing is about making sense of the human condition,’ he said. ‘It’s about communicating truth, which is useful and helpful to people on a far more elemental level than a lot of stuff we think of as necessary to life.’ ” 
 
Apart from the questions of what happened that summer, of how different characters remember the events and of what has brought this strange character of the translator - of whose intentions I was suspicious all the time - to that place, the novel is strongest when it comes to the relationship between fact and fiction. I think it is quite natural that creativity avails itself of experiences, yet, to what extent should a writer actively make use of his or her real life? Changing names and places does not always alter people beyond recognition, so don’t they have the right of their own story? Slowly, this issue becomes more and more crucial to the plot. 
 
Wonderfully written, suspenseful not to the extent of a mystery novel but surely to keep you reading, a great read that I thoroughly enjoyed, first and foremost because it made me ponder a lot even after closing it. 
Der letzte Sommer in der Stadt by Gianfranco Calligarich

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challenging

4.0

 
Leo Gazzarra verlässt seine Heimat Mailand, um in Rom ganz in das Leben einzutauchen. Die Zeitung, bei der er arbeitet, schließt jedoch schon bald, dank eines Freundes findet er jedoch einen Aushilfsjob beim „Corriere dello Sport“. So wie das Jahr seinen Lauf nimmt, spielt sich auch sein Leben ab: mal Sonne mal Regen, mal nähern er und Arianna sich an, dann wiederum stoßen sie sich ab. Die Nächte sind lang, ausgelassen und alkoholgeschwängert, die Tage verbringt Leo auf den Plätzen der Stadt, trifft Bekannte, genießt das Dolce Vita in den Restaurants. Doch mit der großen Augusthitze kippt auch das Jahr und ein Ende ist unausweichlich. 
 
Nach seiner Veröffentlichung 1973 wurde Gianfranco Calligarichs Roman „Der letzte Sommer in der Stadt“ mit dem Premio Inedito ausgezeichnet und genauso schnell vergessen, wie er bejubelt wurde. Auch eine Wiederentdeckung und zweite Begeisterungswelle konnte die Erzählung nicht davor retten, wieder in Vergessenheit zu geraten. Nun also der dritte Aufzug für die ungewöhnliche Liebesgeschichte und Ode an die Ewige Stadt. 
 
„Was für ein Tag“, sagte sie, „ich bin extrem spät aufgestanden, war drei Stunden im Schwimmbad und dann wieder zwei Stunden im Bett. Ich bin fix und fertig.“ Graziano schaut sei mit angehaltenem Atem an. „Ein wahnsinnig produktiver Tag“, sagte er. „Wieso“, sagte sie, „ich habe rote Blutkörperchen produziert, reicht das nicht?“ 
 
Es ist die Geschichte des süßen Müßiggangs zu Beginn der 1970er Jahre. Leo hat eigentlich nicht das Geld dafür, mäandert sich aber geschickt durch das römische Leben. An morgen verschwendet er keinen Gedanken, auch Beziehungen oder der Job sind nichts, worauf er mehr Gedanken als erforderlich verwenden würde. Auch wenn Rom voller Leben ist und immer irgendwo etwas geschieht, merkt man doch die Leere, die in seinem Leben herrscht. Er hat nichts, woran er festhalten kann, nicht einmal seine Wohnung ist die seinige, sondern genauso vorübergehend wie alles in seinem Leben. 
 
Es ist das Bohème-Leben wie man es aus Romanen aus dem Paris der 20er und 60er Jahre kennt, hier jedoch sind weder Künstler noch eine desillusionierte Kriegsheimkehrergeneration, sondern junge Menschen ohne Ziel, die nur mit ausreichend Alkohol das Nichts aushalten, das ihr Leben ist. Sie bemühen sich jedoch auch nicht, ihr Leben mit Sinn zu füllen oder aktiv zu werden. Selbstreflexion fehlt ebenso wie ein kritischer Blick auf das Leben oder die Gesellschaft und die politische Situation, die durchaus genügen Stoff geboten hätten. Das muss man sich auch erst einmal leisten können. 
 
Calligarich gelingt es, den emotionalen Ausnahmezustand seines Protagonisten glaubhaft zu transportieren, auch das Lebensgefühl Roms und der Takt des Jahres spiegeln sich hervorragend in der Erzählung wider. Mit großartigen Metaphern und vor allem dem Bild des Meeres als Sehnsuchtsort, Ort des Anfangs und des Endes zeigt der Autor seine sprachliche Stärke. Was mir jedoch etwas fehlte war das Identifikationspotenzial, die Figuren beobachtete ich aus der Ferne, sie blieben mir fremd und konnten mich leider nicht berühren. Für ihr weinerliches Drama vor dem Hintergrund der realen Probleme der damaligen wie der heutigen Zeit kann ich leider nur wenig Mitgefühl aufbringen. 
Hundepark by Sofi Oksanen

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medium-paced

5.0

 
Im Hundepark in Helsinki sieht sie sie zum ersten Mal nach vielen Jahren wieder. Olenka dachte fernab der Heimat in Sicherheit zu sein, nicht gefunden zu werden, doch jetzt ist Daria aufgetaucht und das kann nichts Gutes bedeuten. Sie blicken auf die glückliche Familie mit den beiden Kindern. Ihren Kindern. Die jedoch nichts davon wissen, wer ihre leiblichen Eltern sind und wie sie gezeugt wurden. Und schon gar nichts wissen sie von den rücksichtslosen Machenschaften in der Ukraine, an denen Olenka selbst beteiligt war und bei denen die prekäre Lage junger, mittelloser Frauen ausgenutzt wurde. Doch nun holt sie die Vergangenheit und das, was sie getan hat, ein und sich muss sich ihren Taten stellen. 
 
Die finnisch-estnische Schriftstellerin Sofi Oksanen thematisiert immer wieder politisch und gesellschaftlich brisante Themen in ihren Romanen und lässt dabei ihre eigene Biografie als Kind einer Einwanderin mit einfließen. Sowohl ihr Debüt „Stalins Kühe“ sowie auch „Als die Tauben verschwanden“ konnten mich bereits begeistern. „Hundepark“ ist jedoch deutlich ausgereifter und ein Text von psychologischer Tiefe, der nachhallt. 
 
Die Handlung hat mehrere Erzählstränge. Zum einen erleben wir Olenka in der finnischen Gegenwart, wo sie sich mit Darias plötzlichem Auftauchen auseinandersetzen muss und offenbar große Angst vor dieser bzw. dem, was sie mit sich bringt, hat. Das Warum erklärt sich durch die Rückblenden, die an mehreren Zeitpunkten in der ukrainischen Vergangenheit ansetzen. Als Model wollte sie einst in Paris große Karriere machen und der Armut entfliehen, doch sie war zu störrisch, um die Tipps anzunehmen, und so fand sie sich bald wieder in der Einöde des Donbass. Ihr Vater war schon viele Jahre zuvor in einer illegalen Mine verunglückt – zumindest ist das die offizielle Version der Familie. Aber es gibt viele Versionen ihres Lebens. 
 
Es entfaltet sich eine Geschichte, von der man weiß, dass sie in der Realität so geschehen kann und vor der man doch lieber die Augen verschließen möchte. Menschenhandel, Organhandel oder wie auch hier, junge Frauen zu Leihmüttern für jene machen, in der Regel aus dem Westen, die es sich leisten können. Nicht nur die finanzielle Not, sondern auch politischen Verstrickungen sind es, die dem Roman auch Spannung verleihen und die komplexe Realität nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den Ländern zwischen Ost und West greifbar machen. 
 
Die Dichotomie von Täter und Opfer ist schwierig hier, denn man kann den Wunsch nach einem besseren Leben, nach einem kleinen Stückchen vom Kuchen des Glücks, gut nachvollziehen. Und es ist ebenso offenkundig, dass man entweder mitspielt und selbst zum Täter wird oder eben auf der Seite der Ausgebeuteten landet. Moral und Ethik haben es schwer in einem solchen Umfeld. 
 
Ein erzählerisch starker Roman, der langsam in einem hineinkriecht und nicht mehr loslässt. 
Der fürsorgliche Mr Cave by Matt Haig

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4.0

 
Der Antiquitätenhändler Terence Cave will nur seine Familie beschützen, was bislang nicht gut gelungen ist. Seine Mutter hat sich das Leben genommen und obwohl er damals noch ein Kleinkind war, suchte er die Schuld bei sich. Auch seine Frau kam ums Leben, weil er passiv war und sie nicht beschützt hat. Und nun Reuben, sein Sohn und Zwillingsbruder von Bryony, die einzige, die ihm noch geblieben ist. Doch aus dem wohlerzogenen Mädchen wird ein Teenager und ihr setzen die Verluste ebenfalls zu. Terence sieht rot, vor allem als sich seine Tochter sich mit Denny einlässt, einem Boxer, der dabei war, als eine ganze Gruppe von Jungs Reuben in den Tod betrieben haben. Die Lage spitzt sich zu zwischen Vater und Tochter, je mehr er beschützen will, desto stärker ihre Gegenwehr, bis es zu gänzlichen Eskalation kommt. 
 
„Der fürsorgliche Mr Cave“ ist Matt Haigs dritter Roman, der im Original schon 2008 erschien, jetzt jedoch erst ins Deutsche übersetzt wurde. Haben seine hier bekannten und erfolgreichen Romane häufig spekulative und magische Elemente, wirkt dieser geradezu ernsthaft, wobei auch der Protagonist unter Halluzinationen und realistischen Träumen leidet, die sich jedoch durch seine Traumatisierung durch die Verluste, die er nicht verarbeitet hat, erklären lassen. Der Roman ist das Vermächtnis eines verzweifelten Menschen, der das Beste wollte und das Schlimmste angerichtet hat. 
 
Zunächst weiß man nicht genau, an wen sich Terence Cave in seinem langen Brief richtet, bald schon wird jedoch klar, dass es seine Tochter sein muss, der er sich und seine Sicht erklären will. Es ist offenkundig, dass etwas Schlimmes geschehen sein muss, dass es zu dieser für den Erzähler schmerzhaften Reflexion seines eigenen Handelns gekommen ist. Er hat Fehler gemacht, viele, mit schwerwiegenden Folgen, die er nun nicht mehr leugnet. Seine Intentionen waren gut, aber ach, die Mittel, die Borniertheit, der Tunnelblick, all das hat ihn daran gehindert auf seine Schwiegermutter zu hören und anders mit Bryony umzugehen. 
 
Immer mehr steigert sich Mr Cave in etwas hinein, obsessiv versucht er Bryony das kleine Mädchen sein zu lassen, dass Cello und Hockey spielt und auf den Vater hört. Das Mädchen, das nicht aufbegehrt und keine Probleme macht, ganz anders wie ihr Bruder. Im Unterschied der Geschwister lag der Ausgang allen Unglücks. 
 
Mr Cave ist ein klassischer tragischer Held, der in einem Alptraum gefangen ist, aus dem er sich und seine Tochter nicht befreien kann. Eine Tragödie durch und durch, wobei man sich – bei allen nachvollziehbaren Argumenten – nicht mit Cave identifiziert und somit trotz der gewählten Perspektive immer eine Distanz zwischen Leser und Text bleibt. 
The Paris Bookseller by Kerri Maher

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reflective

5.0

 
Young Sylvia Beach has always dreamt of writing books, but soon she must recognise that writing isn't hers. When in Paris, the American meets Susanne and Adrienne who run a bookshop and she is immediately fascinated by them. She decides to open a bookshop herself to provide Paris and its masses of expatriates with English books. A risky adventure in 1919, but her small store "Shakespeare and Company" is going to make history. Not only do the Roaring Twenties make Paris the centre of the literary world, the bookshop and Sylvia become its very own epicentre and when she comes across an extraordinary novel nobody wants to publish, she decides to do it herself thus making James Joyce and his "Ulysses" one of the greatest novels of the century. 
 
Kerri Maher tells the story of a young and adventurous woman who follows her instincts and is willing to risk a lot to make her dreams come true. “The Paris Bookseller” portrays an outstanding personality whose strong character can be felt in every line of the novel. On the other hand, the novel is a remarkable depiction of misogynist behaviour in the literary world and, on the other, also of strong women who can accomplish a lot when working together. 
 
I totally adored following Sylvia's way from naive American tourist to one of the most important characters in the literary world between the wars. Surely Paris was the place to be and she was there at the right time, but also her endeavour and spirit were decisive to make it the best known bookstore in the world. 
 
I wasn't aware of how hostile towards women the time and publishing industry was, quite interestingly, it wasn't people like Hemingway of whom I could have easily expected such a behaviour, quite the opposite, the educated and seemingly decent people were the most abominable. 
 
A great read which gives insight in a time already a century ago and most certainly a must read for all booklovers of classics and the great time a century ago. 
Wayward by Dana Spiotta

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medium-paced

4.0

 
Samantha Raymond cannot say what it was exactly that lead her to buy a house and to move out of the suburban comfort zone with her husband Matt and their teenage daughter Ally. Maybe Trump’s election, maybe the feeling of menopause hitting her or just the fact that she spends her nights awake pondering about her life and all that is connected to it: motherhood, mortality and the country she lives in. Via the Internet, she connects with some radical women whose notions are new to her. But sorting out her new life also means getting more and more away from her old life and her daughter. Has she ever been a good mom? Didn’t she do all that was necessary to bring Ally up? And what did she use her one life for actually? 
 
In her novel “Wayward”, Dana Spiotta portrays a woman at a crucial point of her life. She made some decisions that now come under scrutiny. It is not only the outer, visible elements of her life but much more her inner convictions that have to stand the test. Her first move sets in motion a chain of events that bring her further away from all she has known for so many years and it remains to be seen where this will lead her. 
 
What I liked most was the combination of metaphors the author uses. The old house that Sam finds and is attracted to immediately mirrors her body. Just like the cosy new home, life also has left traces on her body. Just like she renovates the house, she starts to train to get stronger. However, all the renovation cannot hide that the years have left their marks on it and some things simply cannot be redone. 
 
Just as she analyses her complicated relationship with her own mother and also with her daughter, she analyses the state the country is in. The opposing parts become obvious through the segregation between the white and better-off parts of town and her new place which is quite the opposite. Coming from a protected life, she is now confronted with crime which has always been a reality for other parts of society, but not the suburban housewives she has known for so long. 
 
The novel has a clear feminist perspective. Sam volunteers at a small museum that was the home of a 19th century feminist who ignored societal constraints and followed her ideals, also Sam’s mother is an independent woman, whereas she herself had given in to a life that she now is running from. Her daughter also tries to rebel against Sam’s life choices and wants to free herself -  in her very own way. All women make choices that have consequences, all woman have to decide between conformity and rebellion, they want their life to be meaningful – but what does that mean and what is the price for it? 
 
An interesting read from a point of view that is slowly expanded to show the bigger picture.